Das Inflationsjahr 2023 hatte den europäischen Lebensmitteleinzelhandel stark gefordert. Inzwischen ist die Inflation wieder gesunken, der Kostendruck allerdings bleibt und das Marktvolumen insgesamt ist kleiner geworden. Trotz dieser Herausforderungen aber gibt es Anzeichen für eine Erholung – und neue Wachstumschancen. Das zeigt die aktuelle Studie „The State of Grocery Europe“ für das Jahr 2024, in der McKinsey gemeinsam mit dem europäischen Handelsverband EuroCommerce die derzeitigen Entwicklungstrends der Branche unter die Lupe genommen hat.
Mehr als 12.000 Verbraucher:innen aus 11 europäischen Ländern haben an der Umfrage teilgenommen, außerdem CEOs und Führungskräfte aus über 15 Ländern.
75%
der Händler blicken kritisch auf den Markt, doch nur 36% rechnen mit weiterer Verschlechterung.
Alte Sorgen, neue Chancen
Wie bewerten die Lebensmittelhändler die aktuelle Lage? Die Führungskräfte sind noch immer besorgt, doch in der Tendenz zeigen sie sich weniger pessimistisch als in den Vorjahren: In unserer Umfrage schauen rund drei Viertel der CEOs nach wie vor kritisch auf die schwierige Marktsituation – die sinkenden Lebensmittelpreise und steigende Kosten drücken auf die Profitabilität. Doch nur noch 36 Prozent erwarten, dass sich die Bedingungen erneut verschlechtern werden (8 Prozentpunkte weniger als im Vorjahr), während bereits 40 Prozent damit rechnen, dass die Lage stabil bleibt (gegenüber 33 Prozent 2023). Der vorsichtige Optimismus der CEOs ändert jedoch nichts an ihren Prioritäten:
Die Agenda des Topmanagements hat sich kaum verändert. Zwei Themen allerdings sind deutlich nach oben gerückt und zählen jetzt zu den Top-5-Prioritäten: Talentgewinnung und -entwicklung sowie Food to go (verzehrfertige Convenience-Produkte). Alles in allem haben sich in der Studie acht Trends herauskristallisiert, die 2024 und darüber hinaus die Lebensmittelbranche bewegen werden. Einige sind schon länger präsent, andere neu – doch alle sind relevant, wenn es darum geht, eine erfolgreiche Strategie für die kommenden Jahre zu entwerfen. Vier der signifikantesten Trends werden nachfolgend beleuchtet.
Dauerbrenner Margen- und Kostendruck
Zwischen 2019 und 2022 waren die EBIT-Margen sowohl für Lebensmittelhändler als auch für Konsumgüterhersteller gesunken. 2023 zeigte sich jedoch ein anderes Bild: Die Einzelhändler mussten wegen zusätzlicher Kostensteigerungen weitere Verluste hinnehmen, während die Hersteller 0,8 Prozentpunkte zurückgewannen, da sie die gestiegenen Kosten an die Händler weitergeben konnten. In diesem Jahr steht der Lebensmittelhandel weiter unter hohem Margendruck. Der wichtigste Faktor sind dabei steigende Miet- und Arbeitskosten.
70 Prozent der befragten CEOs geben an, dass Kosten- und Margendruck für sie zu den Top-3-Prioritäten zählen. Die Händler reagieren darauf, indem sie intern weitere Kosten einsparen und unter anderem noch intensiver mit den Lieferanten verhandeln. Damit setzen sie den Trend aus dem Vorjahr fort, der zur Folge hatte, dass einige Produkte des Kernsortiments vorübergehend nicht in den Geschäften erhältlich waren.
Auch Einkaufsallianzen gewinnen an Bedeutung. So bahnen sich neue Händlerpartnerschaften an, z.B. in Frankreich zwischen Auchan, Intermarché und Casino, die ihre Verhandlungen mit großen Markenherstellern künftig im Verbund führen wollen. Zugleich bleiben die M&A-Aktivitäten hoch.
Nach dem Rekordjahr 2023 mit 21 Transaktionen in Europa, darunter die Übernahme der Mehrheit des ALDI-Filialnetzes in Dänemark durch den Handelskonzern Reitan, streben die Einzelhändler weiterhin nach Skaleneffekten.
Sparfüchse und Premium-Shopper
Auf der Konsumentenseite prägen vor allem zwei Käufergruppen das Geschehen. Eine davon – fast die Hälfte der Befragten – will beim Einkauf weiter auf den Geldbeutel achten. Damit ist der Anteil der besonders preissensiblen Konsument:innen insgesamt zwar geringer als im vergangenen Jahr. Die Verteilung des Einkaufsverhaltens auf die verschiedenen Einkommensgruppen bleibt aber ähnlich: Bei den Haushalten mit niedrigem Einkommen ist beim Gang in den Lebensmittelmarkt immer noch verbreitet Sparen angesagt. Bei den kaufkräftigeren Schichten gab es hingegen bereits 2023 erste Anzeichen für eine Rückkehr der Konsumlust. Und 2024 stehen auch wieder mehr Premium- und Bioprodukte auf ihren Einkaufslisten. Je nach Verbrauchergruppe steigen und sinken die Ausgaben also gleichzeitig – die Konsumschere geht weiter auseinander.
Die Ergebnisse der Umfrage sind zudem von Land zu Land sehr unterschiedlich, sodass in Europa mit heterogenen Marktentwicklungen zu rechnen ist. Die Schweizer Konsument:innen beabsichtigen z.B. als Einzige, 2024 mehr zu sparen als 2023 (+4 Prozentpunkte, von 41 auf 47 Prozent), während Sparsamkeit in Dänemark stark an Bedeutung verloren hat (-9 Prozentpunkte, von 52 auf 43 Prozent). Insgesamt ist der Anteil derer, die beim Einkaufen den Rotstift ansetzen wollen, im europäischen Durchschnitt um 5 Prozentpunkte zurückgegangen. Auch bei der Absicht, Premiumprodukte zu kaufen, zeigt sich ein heterogenes Bild: Hier hat der EU-Schnitt um 5 Prozentpunkte zugelegt, aber die Spanne reicht von einem Rückgang um 5 Prozentpunkte in Spanien bis zu einer Zunahme um 14 Prozentpunkte in Polen.
Derweil dauert der Boom der Eigenmarken an – und daran wird voraussichtlich auch eine verbesserte Wirtschaftslage nichts ändern. Handelsmarken und Discounter in ganz Europa verzeichneten 2023 ein starkes Wachstum: Ihr Umsatzanteil stieg um 1,8 bzw. 2,9 Prozentpunkte. Die Kundenerfahrungen mit Eigenmarken sind auch 2024 positiv: Laut Studie bewerten 88 Prozent der Befragten in Deutschland und 86 Prozent in der Schweiz Eigenmarkenprodukte als qualitativ gleichwertig oder sogar besser als Markenartikel. Das deutet darauf hin, dass die Kund:innen auch dann nicht zu den Markenprodukten zurückkehren, wenn sich das Marktumfeld bessert.
88%
der Deutschen halten Eigenmarken für gleichwertig oder besser als Markenartikel.
Der einzige Premiumkauftrend, der von der Inflation gänzlich unberührt geblieben ist, ist der Griff nach höherwertigen Produkten, wenn es um die Gesundheit geht. Die Tendenz, gesund einzukaufen, ist seit mehreren Jahren konstant hoch. Auch funktionelle Lebensmittel, die versprechen, die Energie zu steigern oder die Gesundheit zu fördern, gewinnen in diesem Kontext weiter an Zugkraft. Und das eigene Wohlbefinden schlägt selbst den Klimaschutz: In der Verbraucherbefragung geben die Konsument:innen solchen Produkten, die als „gut für mich“ wahrgenommen werden, Vorrang vor denen, die „gut für den Planeten“ sind.
Der lange Weg zur Nachhaltigkeit
Dazu passt ein weiterer Trend: Zwar ist Nachhaltigkeit in aller Munde, doch die Studienergebnisse zeigen, dass der Anteil der Menschen, die 2024 tatsächlich umweltfreundlichere Produkte nachfragen, gegenüber 2023 um 1 Prozentpunkt gesunken ist. Und die Zahl derjenigen, die mehr Fleischersatzprodukte kaufen wollen, bleibt auf einem konstant niedrigen Niveau. Lediglich die Angehörigen der Generation Z und die Millennials beabsichtigen, tatsächlich nachhaltigere Produkte zu kaufen und nicht nur von ihnen zu sprechen. Auch bei der Erreichung der Emissionsziele für 2025 geht es nur langsam voran. Alle zehn führenden europäischen Lebensmittelhändler haben sich solche Ziele gesetzt. Viele von ihnen müssen jedoch noch erhebliche Lücken schließen, wenn sie diese tatsächlich erreichen wollen. In der Branche ist deshalb mit verstärkten Bemühungen um mehr Nachhaltigkeit zu rechnen. Ein Aufwand, der sich nicht nur für die Umwelt lohnen kann: Denn bei einer Umsetzung entlang der gesamten Wertschöpfungskette bietet sich Unternehmen eine doppelte Chance: Einerseits können sie ihre Emissionen verringern und andererseits Kosten einsparen – je nach Kategorie trifft dies auf bis zu 40 Prozent der Emissionen zu.
Bei der Reduzierung der Scope-3-Emissionen, die außerhalb des eigenen Unternehmens in der Lieferkette entstehen, vermeldet bislang keiner der zehn größten europäischen Lebensmittelhändler Fortschritte. Das liegt vor allem daran, dass sich die genaue Messung hier sehr schwierig gestaltet. Einzelne Vorreiter haben jedoch damit begonnen, eine Bilanzierung zu entwickeln, die auf den tatsächlichen Emissionen pro Produkt und Lieferant basiert und nicht auf globalen Durchschnittswerten für alle Lieferanten. Dieses Vorgehen ermöglicht es den Lebensmittelhändlern, ihre Scope-3-Emissionen präziser zu ermitteln und entsprechend gezielter anzugehen: Wenn sie die tatsächlichen Werte der einzelnen Lieferanten kennen, können sie z.B.zu umweltfreundlicheren Anbietern wechseln oder konkrete Reduktionsziele vereinbaren.
Bis zu
40%
der Emissionen im LEH lassen sich so verringern, dass zugleich die Kosten sinken.
Im Lebensmitteleinzelhandel wird ein Großteil der Treibhausgasemissionen durch die Agrar- und Viehwirtschaft verursacht; rund die Hälfte entfällt allein auf Milchprodukte und Fleisch. Eine regenerative Landwirtschaft ist daher der wichtigste Schlüssel, um die von vielen Einzelhändlern verkündeten Netto-Null-Ziele zu erreichen. Als Alternative zu Biolabels könnten die Unternehmen beispielsweise Labels für regenerative Landwirtschaft in ihrem Sortiment einführen und so gleichzeitig ihr Angebot differenzieren und auf ihre Nachhaltigkeitsziele einzahlen.
Emanzipation des Online-Handels
Im Inflationsjahr 2023 hatte der Online-Lebensmittelhandel noch Marktanteile verloren, aber mit der Erholung der Kaufkraft kehrt nun die Kundschaft zurück: Der Anteil der Verbraucher:innen, die beabsichtigen, wieder mehr Lebensmittel online zu kaufen, ist europaweit im ersten Quartal 2024 um 8 Prozentpunkte gestiegen. Es zeichnet sich ab, dass der E-Grocery-Kanal in den nächsten Jahren schneller wachsen wird als der Lebensmittelmarkt insgesamt.
Vor allem reine E-Grocery-Anbieter weisen mit ihrer Expansion in neue Regionen außergewöhnlich hohe Wachstumsraten auf. Der Online-Supermarkt Picnic z.B. ist in den vergangenen fünf Jahren mit mehr als 30 Prozent pro Jahr gewachsen, hauptsächlich bedingt durch seine schnelle Expansion.
Verschiedene Internethändler, die als Start-ups begonnen haben, erreichen nun auch allmählich die Rentabilitätsschwelle: Der tschechische Anbieter Rohlik arbeitet inzwischen profitabel, Picnic hat verkündet, in reifen Märkten operativ im Plus zu sein, und Ocado ist 2023 in die Gewinnzone zurückgekehrt. Quick Commerce, also das Online-Geschäft mit schnellen Lieferungen, wird in Europa jedoch allenfalls als Nischensparte mit höherem Preispunkt überleben können. Den größten Anteil des E-Grocery-Markts werden Vollsortimenter mit einer Lieferzeit von mehr als einer Stunde ausmachen.
Spannend für den klassischen Lebensmittelhandel ist nicht zuletzt die zunehmende Loslösung des Online-Geschäfts vom stationären Handel. So kaufen inzwischen 37 Prozent der Befragten in Großbritannien (2 Prozentpunkte mehr als 2023) online bei anderen Anbietern als offline. Der Grund: Beide Kanäle befriedigen zunehmend unterschiedliche Einkaufsbedürfnisse. Online-Shops bieten oft, was der Supermarkt nicht hat und umgekehrt, wie eine repräsentative Umfrage unter rund 2.500 Konsument:innen in Deutschland ergab: Stehen beim Online-Einkauf vor allem Zeitersparnis und Bequemlichkeit im Vordergrund, so punktet der stationäre Laden mit seinem haptischen Einkaufserlebnis. Folglich werden Frischeprodukte, Fleisch und Fisch bevorzugt im Markt gekauft, während haltbare Lebensmittel, Fertiggerichte und Getränke eher im Warenkorb des Webshops landen.
Was die Branche noch bewegt: Retail Media, KI und Talente
Neben den oben beschriebenen Trends gibt es weitere Entwicklungen, die Lebensmittelhändler im Blick behalten sollten. So hat sich etwa der Markt für Food to go nach der Pandemie erholt und wächst nun rasant, da die Menschen immer mehr Zeit außer Haus verbringen. Auch das Geschäft mit Retail Media ist ein wichtiger Gewinnbringer für die Branche: 20 der 30 größten Lebensmittelhändler in Europa sind hier inzwischen aktiv. Mit EBIT-Margen von 65 bis 70 Prozent innerhalb der ersten drei Jahre nach dem Start ist dieser Markt höchst attraktiv; erwartet wird ein Wachstum von 15 Prozent pro Jahr.
Im Bereich der künstlichen Intelligenz haben nach wie vor Advanced Analytics und KI-Anwendungen in operativen Prozessen die größte Bedeutung. Doch dabei wird es nicht bleiben: Der auf GenAI basierende Conversational Commerce hat das Potenzial, das Einkaufserlebnis grundlegend zu verändern. So können z.B. Chatbots als persönliche Shopping-Assistenten die Kundenerfahrung online erheblich verbessern. Auch in der Personalgewinnung und -Entwicklung wird GenAI eine immer größere Rolle spielen. Denn Lebensmittelhändler in ganz Europa sind mit einer noch nie dagewesenen Anzahl offener Stellen konfrontiert und die Verweildauer der Mitarbeitenden sinkt. Allein in Deutschland erwägen nach aktuellen McKinsey-Analysen 40 Prozent der Beschäftigten im Handel, den aktuellen Job aufzugeben. Zugleich verlangt die fortschreitende Digitalisierung nach immer neuen Fähigkeiten.
Zeit zu handeln
Trotz der herausfordernden Gesamtlage haben Lebensmittelhändler – unterstützt durch die gestiegene Verbraucherstimmung – jetzt die Möglichkeit, Wettbewerbsvorteile zu erlangen. Wenn es ihnen 2024 gelingt, ein Gleichgewicht zwischen erschwinglichen und Premiumprodukten zu schaffen, können sie optimal auf die wachsende Polarisierung in der Zahlungsbereitschaft reagieren. Für die unverändert preissensitiven Kundensegmente sichert eine weitere Stärkung des Eigenmarkenangebots Marktanteile. Gleichzeitig empfiehlt es sich für die Händler, die steigende Nachfrage nach gesunden Produkten und Food-to-go-Optionen zu bedienen. Unternehmen, die ihr Sortiment außerdem je nach Standort an lokale Bedürfnisse anpassen, haben in diesem heterogenen Marktumfeld die größten Gewinnchancen.
15%
Wachstum verspricht das Geschäft mit Retail Media.
Derweil hält der Kostendruck an. Erste schnell wirksame Maßnahmen haben die Händler bereits 2023 umgesetzt. Jetzt geht es darum, auch weiterreichende Schritte zu unternehmen, um Kosten zu sparen. So kann es sich etwa lohnen, das Operating Model zu überarbeiten, Optimierungen entlang der gesamten Lieferkette vorzunehmen, Mieten neu zu verhandeln oder das Eigenmarkensortiment nach dem Design-to-Value-Prinzip umzugestalten.
Aus dem gewinnbringenden, aber noch jungen Geschäft mit Retail Media schließlich können Lebensmittelhändler das Maximum herausholen, wenn sie dazu übergehen, wie eine Agentur zu den denken, Netzwerke zu bilden und entsprechende Ressourcen bereitzustellen. Außerdem sollten sie die Wirkungsmessung ihrer Kampagnen optimieren und ihr Angebot kontinuierlich erneuern. So bleiben sie für die Werbetreibenden auch über konjunkturelle Schwankungen hinweg relevant. Am Beispiel Retail Media, aber auch an den Themen polarisierter Konsum und Nachhaltigkeit zeigt sich nicht zuletzt, wie sehr die Trends im Lebensmittelmarkt auch auf die Hersteller ausstrahlen: Absatzkanäle verschieben sich, Hersteller-Händler-Beziehungen justieren sich neu. Und auch darin steckt eine Chance. Denn von einer verstärkten Kooperation entlang der Konsumtrends können am Ende beide Seiten profitieren.