Erdgas bleibt bis auf Weiteres von zentraler Bedeutung für die Energieversorgung in Deutschland. Nach neuen Berechnungen könnte der Gesamtverbrauch von aktuell 740 TWh bis 2030 auf lediglich 690 bis 720 TWh zurückgehen – deutlich geringfügiger als die Prognose aus dem Netzentwicklungsplan, die von einem Erdgasbedarf von 550 bis 650 TWh ausgeht. Der schleppende Umstieg auf Wärmepumpen in Haushalten und Gewerben sowie vor allem der höhere Erdgasbedarf für die Stromproduktion und Fernwärmeerzeugung sind die wichtigsten Gründe für den geringen Rückgang der Nachfrage. Dies geht aus dem neuen Energiewendeindex der Unternehmensberatung McKinsey & Company hervor.
Rückgang des Erdgasverbrauchs bei Haushalten und Gewerben – Steigerung in der Stromerzeugung und Fernwärme
„Deutschland wird voraussichtlich noch länger auf Erdgas angewiesen sein als angenommen“, sagt Thomas Vahlenkamp, Senior Partner im Düsseldorfer Büro von McKinsey. Dies ergeben Berechnungen entlang der drei Verbrauchssektoren Haushalte und Gewerbe (45 % Anteil am Gasverbrauch), Industrie (30 %) und Kraftwerke (25 %).
In Summe wird im Segment Haushalts- und Gewerbe, Handel, Dienstleistungen bis 2030 ein Rückgang der Erdgasnachfrage um 35 bis 45 TWh auf etwa 285 bis 295 TWh erwartet. 2023 betrug der Erdgasbedarf von Haushalten und Gewerbe etwa 330 TWh. Davon entfielen ungefähr 230 TWh auf die fast 20 Mio. Wohnungen in Deutschland, die mit Gas beheizt werden – knapp die Hälfte aller Haushalte im Land. Gewerbe, Handel und Dienstleistungen (GHD) verbrauchten rund 100 TWh, die ebenfalls überwiegend für Raumwärme und Warmwasser genutzt wurden.
Selbst bei einer Beschleunigung der derzeit schleppenden Absatzentwicklung von Wärmepumpen – 2024 wurden nur 193.000 verbaut – ist das Ziel von 6 Mio. installierten Wärmepumpen 2030 schwer realisierbar. Auch die hohe Wärmepumpenquote im Neubau reicht nicht aus, um die Ausbauziele zu erreichen.
Derzeit heizen knapp 14 % der Haushalte mit Fernwärme. Mittelfristig sollen jährlich rund 100.000 Gebäude neu an Wärmenetze angeschlossen werden. Das Ziel erscheint realistisch, nachdem 2023 erstmals diese Schwelle überschritten worden ist. Aufgrund der beschriebenen Hemmnisse beim Ausbau alternativer Heizungstechnologien und der fortlaufendenden Erdgasnutzung in Bestandsgebäuden erscheint ein abruptes Ausphasen von Gasheizungen bis 2030 daher unwahrscheinlich. Gleichwohl lassen die hohe Wärmepumpenquote im Neubau und die vermehrten Anschlüsse an das Fernwärmenetz eine moderate Abkehr von Gasheizungen erwarten: Bis 2030 prognostizieren wir einen Rückgang des Gasbedarfs um 25 bis 30 TWh im Vergleich zum Basisjahr 2023, zusätzliche 10 bis 15 TWh könnten durch Energieeffizienzmaßnahmen erreicht werden.
Im Industriesektor wurden 2023 rund 215 TWh Erdgas verwendet – vor allem zur Erzeugung von Prozesswärme, bei der Erdgas über 40 % aller eingesetzten Endenergieträger ausmacht. Insgesamt wird durch die fortschreitende Elektrifizierung, Umstellung der Produktionsprozesse und Effizienzsteigerungen bei konstantem Produktionsniveau ein Rückgang des industriellen Gasbedarfs um 45 bis 55 TWh bis 2030 erwartet. Die Nachfrage im Industriesektor würde damit auf 160 bis 170 TWh sinken.
Ein Nachfrageschub ist hingegen durch die vermehrte Strom- und Fernwärmeerzeugung durch Erdgas zu erwarten – vor allem durch den Kohleausstieg sowie steigende Bedarfe. Wurden 2023 noch 140 TWh Erdgas zur Strom- und 55 TWh zur Fernwärmeerzeugung genutzt, könnte sich dieser Wert auf 170 bis 175 TWh (Stromerzeugung) und 75 bis 80 TWh (Fernwärme) erhöhen. Denn: Der Umstieg der Verbraucher von dezentraler auf leitungsgebundene Wärme erhöht den Bedarf an zentral hergestellter Fernwärme, bei der viele Kommunen in ihrer Wärmeplanung vermehrt auf Erdgas setzen. Infolge des Kohle- und Kernkraftausstiegs muss zudem in der Stromerzeugung mehr Gas herangezogen werden, da die erneuerbaren Energien aufgrund ihrer Volatilität und des schleppenden Ausbaus den Bedarf nicht allein werden decken können.
Angesichts der Diskrepanzen zwischen Planung und möglicher höherer Nachfrage gelte es, drei Maßnahmen in Betracht zu ziehen:
Gasnachfrage realistisch abschätzen: Hierzu ist eine klare Analyse der Fakten und Nachfrageentwicklungen erforderlich.
Gasversorgung sichern: Deutschland hat zunehmend auf die Versorgung per LNG (liquefied natural gas) umgeschwenkt – doch eine knappe Versorgungslage könnte erneut zu Preisspitzen für Erdgas führen.
Infrastrukturimplikationen ableiten: Mit Blick auf die Zukunft von Deutschlands 600.000 km langem Erdgasnetz gilt es, Möglichkeiten zur integrierten Optimierung und sektorübergreifenden Vernetzung auszuloten. So könnte die bestehende Infrastruktur auch bei längerfristig sinkendem Erdgasbedarf noch von großem Nutzen sein, z.B. bei der Umwidmung von Pipelines auf den Transport von H2 oder CO2 zur Abscheidung und Speicherung.
Hintergrund und Methodik
Der Energiewende-Index von McKinsey bietet alle sechs Monate einen Überblick über den Status der Energiewende in Deutschland. Feedback und Rückmeldung dazu sind ausdrücklich erwünscht. Einen detaillierten Überblick über den Index und die 15 untersuchten Indikatoren finden Sie unter https://www.mckinsey.de/energiewendeindex