Vor allem wenn der rechtzeitige Abbau nicht gelingt, kann dies teils verheerende Folgen haben. Ein hoher Arbeitsrückstand führt nicht nur zu langen Wartezeiten und sinkender Kundenzufriedenheit, sondern auch zu Unzufriedenheit bei den Mitarbeitern, die Überstunden und Samstagsarbeit leisten müssen. Zudem steigt der Schadenaufwand, da wichtige Themen wie (aktive) Schadensteuerung oder Betrugsabwehr vernachlässigt werden könnten. Daher ist es für Versicherer von entscheidender Bedeutung, auf solche Szenarien vorbereitet zu sein und über eine entsprechende Strategie für Auslastungsspitzen zu verfügen. Neben einem präzisen und detaillierten Verständnis der Ursachen ist dafür auch die Etablierung relevanter Wirkungshebel innerhalb der Organisation unabdingbar.
1. Drei Trends als Ursache für die Zunahme von Auslastungsspitzen und Arbeitsrückständen im Schadenmanagement
Die Zunahme von Arbeitsrückständen ist im Wesentlichen auf eine wachsende „Nachfrage“ (also steigende Schadenvolumina) bei gleichzeitig vermindertem Angebot (also rückläufigen Mitarbeiterkapazitäten und teilweise sogar absinkender Produktivität) zurückzuführen.
Auf der einen Seite ist eine steigende „Nachfrage“ zu beobachten, bedingt durch kontinuierlich zunehmende Schadenvolumina. Hauptverantwortlich hierfür ist die Zunahme von Kumulereignissen: Die Häufigkeit von Naturkatastrophen nimmt infolge des Klimawandels erheblich zu, wie die jährliche Wachstumsrate von 28% zwischen 2020 und 2023 zeigt. Zudem wird die Mitarbeiterausstattung der Schadenorganisation teilweise nicht ausreichend an den wachsenden Versicherungsbestand angepasst. Auch die gestiegene Schadenfrequenz – bedingt durch eine Zunahme der Pkw-Reisen und der Wiederbelebung des Berufsverkehrs, der inzwischen wieder das Niveau vor COVID-19 erreicht hat – trägt maßgeblich zur steigenden Nachfrage bei.
Dem gegenüber steht ein vermindertes Angebot, bedingt durch rückläufige Mitarbeiterkapazitäten und teilweise sogar absinkende Produktivität in den vergangenen Jahren. Die Ursachen für Ersteres sind vielfältig. Der demografische Wandel spielt eine zentrale Rolle: Mit der Babyboomer-Generation gehen vermehrt Experten in den Ruhestand, während es gleichzeitig an qualifizierten Nachwuchskräften mangelt. Darüber hinaus kommt es während der Sommerferienzeit zu erhöhten Personalengpässen, da viele Mitarbeiter urlaubsbedingt abwesend sind. Hinzu kommt, dass attraktivere Stellenangebote von Wettbewerbern sowie Krankheiten zu hoher Mitarbeiterfluktuation und erhöhten Abwesenheitsquoten führen.
Für stagnierende Produktivität sind ebenfalls mehrere Faktoren verantwortlich. Bestehende Organisationsstrukturen und Arbeitsabläufe führen teils dazu, dass Schadenfälle, insbesondere bei sogenannter Prozess-Ownerschaft, mehrfach aufgegriffen werden müssen. Dies geschieht, wenn die Bearbeitung von Schadenfällen nach einzelnen Prozessschritten erfolgt und nicht im Case-Ownership-Prinzip, bei dem die Bearbeitung aus einer Hand erfolgt. Darüber hinaus können technologische Defizite die Effizienz erheblich beeinträchtigen, da durch veraltete oder fehlerhafte IT-Infrastruktur oder Schadenanwendungslandschaften Systemausfälle und lange Ladezeiten verursacht werden können.
Die Versicherungsbranche hat in den vergangenen Jahren einige Fortschritte bei der Automatisierung der Schadenabwicklung gemacht. Gleichzeitig kommen in vielen Bereichen nach wie vor manuelle Prozesse zur Anwendung, was daran liegt, dass Schäden häufig nicht in einem Schritt bearbeitet werden und damit hybride Bearbeitung zum Einsatz kommt, aber auch weil in vielen Fällen bei der Abarbeitung von Rückständen auf pragmatische manuelle Bearbeitung gesetzt wird. Das hat dazu geführt, dass es im Markt große Unterschiede beim Automatisierungsgrad gibt. Im Bereich Kfz liegt dieser je nach Schadenart zwischen durchschnittlich 4 und 40%. Führende Anbieter weisen auch deutlich höhere Grade auf. Beispielsweise im Bereich Kfz Glas haben einzelne Anbieter bereits bis zu 80% der Bearbeitung automatisiert.
2. Übersicht über die wichtigsten Hebel zum Management von Auslastungsspitzen
Um Auslastungsspitzen effektiv und effizient zu managen, stehen mehrere operative und strategische Hebel zur Verfügung, die sich unter anderem hinsichtlich ihres zeitlichen Wirkungshorizonts voneinander unterscheiden.
2.1 Operative Hebel zur direkten Vermeidung und Reduzierung von Arbeitsrückständen
Bei den operativen Hebeln, die vor allem auf eine direkte Vermeidung und Reduzierung von Arbeitsrückständen abzielen, lassen sich insgesamt fünf komplementäre Ansätze identifizieren.
Segmentierung der Schäden sowie fokussierte Abarbeitung
Durch eine Segmentierung der Schäden sowie die Trennung von Altschäden aus dem Bestand wird sichergestellt, dass Neuschäden mit der nötigen Priorität bearbeitet werden, beispielsweise zur Durchführung eines aktiven Schadenmanagements. Eine spezialisierte Taskforce konzentriert sich in diesem Zeitraum ausschließlich auf die separierten Altschäden, wie z.B. alle Schäden mit Poststücken, die älter als zwei Monate sind. Idealerweise wird diese Einheit auch von Telefonanfragen befreit. Dadurch wird die Motivation der Belegschaft erhöht, alte Schäden werden zielgerichtet bearbeitet und Neuschäden erhalten die erforderliche Fokussierung.
Senkung des Anrufvolumens, Prävention und Planung von Schadenstücken
Durch präventive Maßnahmen und eine vorausschauende Planung können Unternehmen besser auf Schwankungen reagieren und sicherstellen, dass die Schadenbearbeitung auch in Spitzenzeiten reibungslos funktioniert. Beispiele für unterschiedliche Ansätze, um potenzielle Schadenfälle bereits vor Eintritt zu verhindern oder zumindest die eingehenden Anrufe zu reduzieren, sind unter anderem Unwetterwarndienste mit präzisen örtlichen und zeitlichen Vorhersagen, die Kunden mittels App oder SMS vor Unwettern und Naturkatastrophen warnen. Ein weiteres effektives Mittel ist das systematische Statustracking, das dazu beiträgt, Anrufe und Rückfragen von Kunden und Vermittlern nach der Erstschadenmeldung zu minimieren.
Flexibilisierung der Mitarbeiterkapazitäten
Bei erhöhtem Arbeitsvolumen, wie es durch Kumulereignisse entsteht, ermöglichen gut geplante Kapazitäten und flexible Arbeitsmodelle eine schnelle Reaktion und Anpassung, um den Arbeitsanfall nicht übermäßig anwachsen zu lassen . Beispiele hierfür sind besonders geschulte Katastrophenteams, die im Falle von Naturkatastrophen schnell eingreifen und Unterstützung leisten können – unter anderem als Gutachter vor Ort und als Spezialisten für die schnelle Trocknung von Wasserschäden. Ebenso wichtig ist die Regulierung von Schäden (bis zu einem bestimmten Höchstlimit) durch Agenturen. Darüber hinaus spielen Rahmenverträge mit Schadendienstleistern, wie beispielsweise Sanierungsunternehmen, sowie mit Outsourcing-Dienstleistern, die bei der Schadenbearbeitung unterstützen, eine entscheidende Rolle, um im Kumulschadenfall ausreichende Kapazitäten zu gewährleisten.
Steigerung der Produktivität
Die Schadenbearbeitung lässt sich durch effizientere Prozesse und den Einsatz moderner Technologien beschleunigen, wodurch Rückstände schneller abgebaut und zukünftige Rückstände vermieden werden. Eine Maßnahme hierfür ist die vereinfachte Schadenmeldung bei Kumulschäden, etwa durch die Einrichtung von Notfallhotlines oder die Nutzung vereinfachter Formulare und Checklisten. Regulierungsvorgaben für Schäden können angepasst werden, z.B. die Festlegung von Euro-Grenzen für Begutachtung und Rechnungsprüfung, die Erteilung von Freigabevollmachten oder der Verzicht auf Kostenvoranschläge. Ein weiterer Ansatz ist die Freischaltung digitaler Kalender für Terminbuchungen zur Schadenbesichtigung sowie die Einrichtung zentraler Servicestützpunkte für Sammelbesichtigungen.
Etablierung/Intensivierung von Performancemanagement
Ein stringentes Performancemanagement, das ein regelmäßiges und zeitnahes Monitoring sowohl der eingehenden Schadensmeldungen als auch der verfügbaren Mitarbeiterkapazitäten und Produktivität in jeder Sparte und jedem Team gewährleistet, ist eine wesentliche Grundvoraussetzung für die frühzeitige Erkennung von Trends und Mustern im Arbeitsaufkommen. Dies ermöglicht die Ableitung schneller Maßnahmen sowie eine kurzfristige Implementierung. Idealerweise wird das Performancemanagement in regelmäßige Performancedialoge überführt sowie eine Kaskadierung innerhalb der Schadenorganisation auf unterschiedlichen Granularitätsebenen (z.B. Team- gegenüber Abteilungsebene) sichergestellt.
2.2 Strategische Hebel zur Einführung von Resilienz und Zukunftssicherheit
Resilienz und Zukunftssicherheit von Versicherern lassen sich vor allem durch zwei strategische Hebel sicherstellen.
Organisation, Prozesse und Governance
Eine gut strukturierte Organisation, effiziente Prozesse und klare Governance sind elementare Voraussetzungen, um die nachhaltige Wirksamkeit der operativen Hebel sicherzustellen und ihre Umsetzung zu ermöglichen. Dazu ist vor allem eine Verbesserung der organisatorischen Aufstellung notwendig, denn ein optimales Zusammenspiel der Prozesskette sowie des Operating Model bildet die Grundlage für eine funktionierende Schadenorganisation. Erfolgsversprechende Ansätze umfassen unter anderem die konsequente Einführung von Case-Ownership, die effiziente Segmentierung der gemeldeten Schäden sowie eine zentrale Telefoniesteuerung. Dabei sollte die Erstschadentelefonie von einem Team übernommen werden, das in der Lage ist, einfache Schäden direkt abschließend zu bearbeiten.
Zukunftshebel und KI (inkl. Automatisierung und Digitalisierung)
Für ein hohes Maß an Resilienz und Zukunftssicherheit in der Schadenbearbeitung sollten Versicherer frühzeitig in Zukunftstechnologien und Plattformen investieren und die notwendigen technischen Voraussetzungen bereitstellen. Beispiele für solche Maßnahmen sind:
Modernisierung und Optimierung der IT. Eine robuste IT-Infrastruktur ist notwendig, um die Stabilität der IT zu gewährleisten, systembedingte Ausfälle und Wartezeiten zu vermeiden und die schnelle Implementierung von automatisierten Prozessen zu ermöglichen.
Investitionen in KI und Automatisierung. Versicherer sollten darauf abzielen, ihre Prozesse Ende-zu-Ende zu automatisieren, was durch die Fortschritte und zunehmende Verbreitung von generativer KI deutlich einfacher geworden ist. Beispiele hierfür sind der Einsatz von generative KI-basierten Schaden-Copilot, die Schadensachbearbeiter mit Synthesen von Kundengesprächen und Empfehlungen unterstützen, Voicebots zur Schadenmeldung, automatisierte Deckungsprüfungen und KI-basierte Schadenbegutachtungen.
3. Erfolgsfaktoren auf dem Weg zur Stabilisierung des Schadenmanagements
Für eine erfolgreiche Projektumsetzung sind insbesondere die folgenden fünf Schlüsselfaktoren von Bedeutung:
Kontinuierliches Monitoring und Schaffen von Transparenz. Durch kontinuierliches Live-Tracking mit Dashboards werden die Rückstandssituation sowie deren Treiber detailliert überwacht. Echtzeitdaten ermöglichen datenbasierte Entscheidungen, die fundiert und schnell getroffen werden können.
Etablieren einer Taskforce und schnelle Entscheidungsmöglichkeiten. Eine Taskforce, die sich täglich trifft und austauscht, bespricht aktuelle Herausforderungen und findet schnell Lösungen.
Balance herstellen zwischen Quick Wins und nachhaltigen Verbesserungen. Quick Wins durch Implementieren von Sofortmaßnahmen verschaffen kurzfristig Erleichterung und liefern schnelle Ergebnisse. Gleichzeitig sorgen strategische Lösungsansätze mittels langfristiger struktureller Änderungen und Prozessoptimierungen für nachhaltige Verbesserungen, um Versicherer aus dem „Teufelskreis“ der Schadenrückstände zu befreien.
Regelmäßige Überprüfung und Anpassung. Die Umsetzung und Wirkung der Maßnahmen wird kontinuierlich mittels Dashboards überwacht, sodass bei Bedarf Anpassungen vorgenommen werden können, falls die Maßnahmen nicht die erwarteten Ergebnisse erzielen.
Ganzheitlicher Ansatz zur Minimierung von Rückstand und Schadenaufwand. Hierzu gilt es, Maßnahmen zu ergreifen, die eine optimale Balance zwischen der schnellen Reduzierung von Rückständen und der effektiven Kontrolle des Schadenaufwands ermöglichen. So lässt sich beispielsweise durch Festhalten an bewährten Verfahren wie Betrugsprüfung und Werkstattsteuerung sicherstellen, dass der Schadenaufwand nicht unkontrolliert ansteigt.
Für Versicherer ist es angesichts der steigenden Schadenfrequenz und Schadenkosten unerlässlich, sich frühzeitig mit strategischen Ansätzen zur Kontrolle des Arbeitsanfalls auseinanderzusetzen. Präventive Maßnahmen und effektives Reagieren auf bereits bestehende Arbeitsrückstände gewährleisten die Wettbewerbsfähigkeit auch in schwierigen Zeiten. Da das nächste Kumulereignis mit hoher Wahrscheinlichkeit bevorsteht, ist es umso wichtiger, jetzt zu handeln und eine adäquate Vorbereitung sicherzustellen.
Download Artikel "Das Schadenmanagement nachhaltig stabilisieren: Strategien gegen Auslastungsspitzen und Arbeitsrückstände" (inkl. allen Schaubildern)
Autor:innen: Michael Müssig ist Partner bei McKinsey, Simon Behm ist Partner, Franziska Kraken ist Associate Partner, und Ji Chen ist Knowledge Specialist