Professionell erstellte Prognosen oder Forecasts sind bei der Planung und Strategieentwicklung ein wirksames Instrument, um das Bauchgefühl und kognitive Verzerrungen in Schach zu halten. Das dürften die meisten Topmanager:innen bestätigen. Gleichzeitig räumen sie vermutlich auch ein, dass selbst ihre auf systematischen Analysen basierenden Einschätzungen Prognosen sind.
Dies könnte sich jetzt grundlegend ändern. Erste Praxisversuche deuten darauf hin, dass Automatisierung, Machine Learning und Advanced Analytics auch im betrieblichen Finanzwesen ein echter Game Changer sein könnten – besonders bei der Nachfrageplanung und bei Vertriebs- und Umsatzprognosen. So steigerte zum Beispiel ein Chemikalienhändler den Umsatz um 6%, weil er in der Lage war, präzisere und differenziertere Vorhersagen zu treffen, die er dann als Grundlage für die Ressourcenallokation nutzen konnte. Ein Einzelhändler und ein globales Engineering-Consulting-Unternehmen berichteten von ähnlichen Vorteilen durch Advanced Analytics, die sich in der Reaktion der Anwendenden auf neue Produkte bzw. in einer verbesserten Rentabilität manifestierten.
Jetzt, da die wirtschaftliche Unsicherheit zugenommen hat und die Märkte volatiler geworden sind, müssen auch die Finanzabteilungen der Unternehmen ausloten, wie sie Advanced Analytics und Automatisierung für sich nutzen können. Sie werden diese neuen Technologien brauchen, um dem Forecasting den notwendigen Schub zu geben. Genauer gesagt müssen sie herausfinden, wie sie Echtzeitprognosen erstellen und bereitstellen können, die den schnellen Wandel des Umfelds berücksichtigen. Außerdem werden Teams im Bereich Financial Planning and Analysis (FP&A) automatisierte Kennzahlenübersichten und andere digitale Tools einführen müssen, damit Daten häufig aktualisiert und mehrere Perspektiven dargestellt werden können (siehe Sidebar „Planung in der Pandemie“).1
Der vorliegende Artikel zeigt das Potenzial von Advanced Analytics und beschreibt die organisatorischen, operativen und führungsbezogenen Kompetenzen, die notwendig sind, um präzisere Prognosen zu erstellen. Einige Unternehmen sind bei der Umstellung von „vollständig analog“ zu „überwiegend digital“ schon weit gekommen. Von den Erkenntnissen aus diesen Beispielen und den von uns vorgeschlagenen Maßnahmen profitieren insbesondere Unternehmen und Finanzorganisationen, die sich noch in der Orientierungsphase befinden.2
Klares Technologiepotenzial: Bessere Prognosen werden niemals in 100% der Fälle zu 100% richtig liegen. Keine statistische Formel wird je in der Lage sein, das Auftreten, die Dauer oder die Folgen so genannter „schwarzer Schwäne“ vorherzusagen – für diese höchst unwahrscheinlichen Ereignisse, die von Nassim Nicholas Taleb so ausführlich beschrieben werden, gibt es schlicht keine Datengrundlage. Ebenso wenig wird Advanced Analytics immer optimale Forecasts erstellen; dies räumen selbst Unternehmen ein, die Data Analytics bereits für ihre Prognosen einsetzen. So mussten Streaming-Dienste seit Ausbruch der Coronakrise ihre Algorithmen und Datensätze neu aufsetzen, weil die Quarantäne unvorhergesehene Auswirkungen auf den Konsum von Streaming-Inhalten hatte. Genauso geht es den Unternehmen in vielen anderen Branchen.
Grundsätzlich kann eine historisch hohe Prognosegenauigkeit aber das Vertrauen der Führungskräfte in die generierten Zahlen und die daran ablesbaren Trends erhöhen. Hier ist der Einsatz von Automatisierung, Advanced Analytics und Machine-Learning-basierten Modellen am sinnvollsten, insbesondere bei kurzfristigen operativen Forecasts für die nächsten 3 bis 18 Monate und bei mittelfristigen Nachfrageprognosen für die nächsten ein bis drei Jahre.
Auf kurze Sicht (Tage bis Wochen). Die Nachfrageprognosen eines globalen Fertigungsunternehmens lagen regelmäßig um 50% und mehr neben den realen Werten. Dies führte zu Misstrauen der Planungsteams der unterschiedlichen Geschäftsbereiche gegenüber diesen zentral erstellten Berechnungen. Sie verließen sich lieber auf ihr Bauchgefühl. Hierdurch schmälerten sich jedoch die ohnehin wenigen verfügbaren Informationen für die Entwicklung der Marktstrategien.
Die Finanzfunktion des Unternehmens hatte sich traditionell auf kleine Vertriebsdatensätze aus der Vergangenheit und weitgehend manuelle Berichtsprozesse gestützt, um Mindestproduktions- und benötigtes Lagervolumen zu berechnen. Über einen Zeitraum von sechs Monaten ersetzte das Unternehmen diesen Ansatz durch ein Machine-Learning-basiertes Modell, dem ein deutlich umfangreicherer Datensatz zu Grunde lag und das Daten zu externen Ereignissen aus unterschiedlichen Märkten berücksichtigte, etwa Informationen zu Produktlebenszyklus und -performance, historische Wachstums- und Vertriebsdaten sowie Umfrageergebnisse.
Diese Veränderung führte zu präziseren Prognosen. Die Finanzfunktion des Unternehmens konnte so schnell aktualisierte Vertriebsprofile auf Basis von terminierten Bestellungen und makroökonomischen Daten aus einzelnen Regionen erstellen. Lagerbestände und veraltete Produkte (SKUs) reduzierten sich je nach SKU um 20 bis 40%. Das Unternehmen reagierte nicht mehr nur auf Marktschwankungen, es stellte sich vorausschauend darauf ein. Der Hersteller steigerte seinen Umsatz um weitere 5%, da er in allen Märkten die Nachfrage nun kontinuierlich bedienen konnte.
Auf mittlere Sicht (mehrere Monate). Ein führender Konsumgüterhersteller verkaufte Produkte aus neun Produktgruppen in zwölf Ländern, verfügte aber über keine einheitliche Übersicht der aktuellen Umsätze. Die Finanzplanung für die nächsten ein bis zwei Jahre basierte lediglich auf den Vorjahreszahlen. Um dies zu ändern, automatisierte die Finanzfunktion die Datenerhebung und führte alle Daten nach dem „Single Source of Truth“-Prinzip in einer zentralen Datenbank zusammen.
Gemeinsam mit der jeweiligen Geschäftsbereichsleitung ermittelte das Team mit Kreuzkorrelationsanalysen die bestimmenden Nachfragefaktoren für die einzelnen Märkte und Produktkategorien auf Basis von Hypothesen. Dabei verließen sich die Geschäftsbereichsleiter:innen jedoch auf ihr Bauchgefühl statt auf evidenzbasierte Faktoren. So untersuchte etwa ein Geschäftsbereich die Auswirkungen von Regenwetter auf den Umsatz. Bei der Analyse historischer Daten ließ sich das Wettergeschehen zwar als Umsatzfaktor nachweisen, da eine langfristige Wettervorhersage jedoch kaum möglich ist, war eine wetterbedingte Korrelation schwierig zu prognostizieren.
Um diesen Malus zu beheben, unterzog die Finanzfunktion in Zusammenarbeit mit der jeweiligen Geschäftsbereichsleitung für jede „Land-Produkt-Kombination“ verschiedene Forecasting-Modelle einem empirischen Test und erstellte eine Bewertung der jeweiligen Modelle. In den stabileren westlichen Märkten und Produktkategorien genügten einfache statistische Prognosen auf der Grundlage einer Handvoll historischer Zeitreihen. Die komplexeren Märkte und Produktkategorien, bei denen die Nachfrage von mehr als 20 Faktoren bestimmt wurde, erforderten hingegen Forecasting-Modelle, die auf leistungsstarken Machine-Learning-Systemen basierten.
Mit diesem Ansatz gelang es dem Konsumgüterhersteller, für alle Länder und Produktkategorien präzisere Prognosen zu erstellen und validere Erkenntnisse über maßgebliche Nachfragefaktoren zu gewinnen. Die Lösung berücksichtigte rund 100 klassische makroökonomische Faktoren, etwa die reale BIP-Entwicklung, das verfügbare Einkommen, Arbeitslosigkeit und Konsumtrends und 150 weniger konventionelle Variablen wie Suchmaschinenanfragen, demografische Veränderungen und Indikatoren für das Verbrauchervertrauen.
Die Indizes von Suchmaschinen können angesichts ihrer Verfügbarkeit und ihres breiten Spektrums wertvolle Informationen zum Konsumverhalten liefern. Kombinieren Unternehmen diese Informationen mit Machine-Learning-Systemen, können sie in den Online-Suchanfragen Muster, Trends und saisonale Entwicklungen erkennen. Diese Daten lassen sich wiederum für Forecasting-Modelle nutzen, um strategische Ziele festzulegen. Insgesamt werden in solchen Prognosemodellen mitunter mehr als 1.000 Variablen berücksichtigt.
Entscheidungskritische Faktoren für eine erfolgreiche Implementierung
Wurden Wertschöpfungspotenziale ermittelt und Ziele definiert, müssen sich Organisationen, die Advanced Analytics und Machine Learning implementieren wollen, auf drei wesentliche Voraussetzungen konzentrieren:
1. Saubere, gut zugängliche Daten.
Die Einführung oder Skalierung eines Advanced-Analytics-Programms in Finanzabteilungen setzt eine saubere und präzise Datengrundlage voraus, vielleicht noch mehr als in allen anderen betrieblichen Funktionen. Werden geschäftliche Daten nicht angemessen erhoben, aggregiert, abgestimmt oder bereinigt, verbringen die Mitarbeitenden mehr Zeit mit nicht wertschöpfenden Tätigkeiten und weniger mit den wichtigen strategischen Diskussionen. Ein Data Analyst sagte uns, nicht die Verfügbarkeit der notwendigen Daten sei in den meisten Unternehmen das Problem, sondern der Datenzugang. Bei einem Chemieunternehmen konnten beispielsweise „schmutzige“ Datensätze von den Machine-Learning-Modellen nicht gelesen werden, wodurch wichtige Performancefaktoren in den Ergebnissen unberücksichtigt blieben. Relevanz sauberer Daten. „Schmutzige“ Datensätze mit fehlenden, unplausiblen oder falschen Werten können Modelle verschlechtern und somit Vorhersagen unplausibel werden lassen. Eine Datenreinigung wird notwendig sowie ein erneutes Einlesen der Daten, was den Modellierungsprozess zusätzlich verlängert.
Derartige Umwege lassen sich vermeiden, indem die Leitung der einzelnen Finanzfunktionen Grundregeln für die Datennutzung gemeinsam mit der IT und den operativen Bereichen des Unternehmens aufstellt. Hier gilt es etwa, zu definieren, wie „gute Daten“ aussehen, wer dafür verantwortlich ist, wer Zugriff darauf hat etc. Das entsprechende Team verantwortet zudem die Schulung zum Umgang mit den Systemen auf den Ebenen der Organisation, die die erforderlichen Daten erheben, nutzen und pflegen.
2. Operations und Organisation. Die saubersten und am besten zugänglichen Daten nützen jedoch nichts, wenn die Finanzfunktion nicht auch über die richtigen operativen Abläufe und die passende Organisationsstruktur verfügt, um Advanced-Analytics-Programme zu implementieren. Sie benötigt unterstützende Prozesse und Protokolle, um aus den Daten Erkenntnisse zu gewinnen, diese Erkenntnisse weiterzugeben und gemeinsam mit den Geschäftsbereichsleitungen entsprechende Maßnahmenpläne zu entwickeln. Diesen Bedarf können unter anderem Enterprise Layers, Cloud-Plattformen, Visualisierungstools und Sandboxes für Entwicklerteams erfüllen.
Darüber hinaus muss das Finanzteam herausragende Anwendungsfälle definieren, die andere motivieren, in ihrem Bereich ebenfalls Advanced Analytics einzusetzen. Ein Pharmazieunternehmen begann beispielsweise bei einer kleinen Gruppe, die die Daten zu klinischen Studien überwachte. Im nächsten Schritt wurde der Zugriff auf diesen „Control Tower“ auf eine etwas größere Nutzergruppe erweitert und erst dann wurden Module entwickelt, auf die Tausende von Nutzer:innen zugreifen konnten, um zu überprüfen, wie effizient und effektiv der Prozess für die klinischen Studien des Unternehmens war.
3. Talent. Soll die Umsetzung reibungslos funktionieren, müssen das Unternehmen im Allgemeinen und das Finanzteam im Besonderen Data Scientists, Data Engineers und Mitarbeitende mit Datenvisualisierungsexpertise einstellen und die bestehenden Beschäftigten in der Zusammenarbeit mit den neuen Datenspezialist:innen schulen.
Dieser Prozess ist durchaus herausfordernd. Traditionelle Organisationen sind unter Umständen nicht attraktiv genug, um die besten Digital- und Finanztalente anzulocken. Kleinere Unternehmen sind finanziell womöglich nicht gut genug aufgestellt, um Data Scientists und Finanzanalyst:innen als Vollzeitkräfte einzustellen; sie müssen evaluieren, welchen Anteil ihrer Analytics-Tätigkeiten sie auslagern wollen und welche Fähigkeiten im Unternehmen verbleiben sollen. Hier lohnt eine weitsichtige Perspektive: Modelle bleiben im Lauf der Zeit niemals stabil, das heißt, sie müssen kontinuierlich angepasst werden. Dies spricht für den Aufbau einer internen Analytics-Abteilung. Unter Umständen lohnt sich die Zusammenstellung einer Hybridgruppe aus Mitarbeitenden mit Finanzexpertise und Mitarbeitenden mit Digitalexpertise, die an Projekten arbeiten, welche unabhängig vom Ausgang sinnvoll sind („No Regret“) und Argumente für umfassendere Investitionen in digitale Talente liefern.
Auch die Data Governance nimmt bei zahlreichen Unternehmen viel Raum ein und wird idealerweise intern erledigt. Ein globales Fertigungsunternehmen hat beispielsweise seine eigenen Programme und Zertifizierungen für die Ausbildung von Data Scientists entwickelt. Dabei werden auf allen Ebenen der Organisation verschiedene Module und Ausbildungspläne angeboten; mehr als 300 Führungskräfte und Mitarbeitende haben das Programm bereits durchlaufen, was den Bedarf an externer Expertise reduziert.
Vision: Advanced Analytics rückt mit CFOs ins Zentrum der Unternehmensstrategie
Unternehmen brauchen eine klare Vision, die aufzeigt, wie neue Technologien in Zukunft eingesetzt werden sollen. Erfahrungsgemäß sind CFOs geradezu prädestiniert dafür, diese Vision vorzugeben und die breit angelegte Einführung von Advanced Analytics im Unternehmen voranzutreiben. Sie verfügen sowohl über die notwendigen Daten als auch über traditionelle Finanzkompetenzen, um den wirklichen Mehrwert der Analytics-Programme einschätzen zu können. Auch wenn Projektteams und Manager:innen erahnen, ob bei Prozessen oder beim Produktexport Optimierungspotenzial besteht, können CFOs diese Vermutungen kontextuell valide und verlässlich einordnen. Ohnehin berühren hochrangige Entscheider im Rahmen von Investorenveranstaltungen oder der Präsentation von Quartalszahlen das Thema Analytics-Programme häufig ganz automatisch, etwa bei prognostizierten Auswirkungen von Digitalisierungsstrategien auf den finanziellen Erfolg des Unternehmens. CFOs bieten jedoch eine zusätzliche Perspektive: Sie erkennen die Auswirkungen auf Investoren. Damit können sie dem häufig geäußerten Wunsch von Vorständen und Aufsichtsräten entsprechen, die Funktion der Finanzaufsicht nicht nur als traditionelle „Transaction Manager“, sondern als wichtige Strategiepartner:innen der operativen Bereiche und als „Value Manager“ wahrzunehmen.
Selbstverständlich können CFOs die digitale Transformation nicht im Alleingang anführen; sie müssen vielmehr als Kooperationspartner:innen fungieren, alle Beteiligten an einen Tisch bringen und sie gleichzeitig dazu motivieren, die Verantwortung für ihre Prozesse zu übernehmen – dazu gehören auch die Leitenden anderer betrieblicher Funktionen wie IT, Vertrieb und Marketing.
CFOs, die bereits mit modernsten Advanced-Analytics-Systemen arbeiten, positionieren sich nicht nur als progressive Finanzmanager:innen, sondern auch als wertvolle Geschäftspartner:innen für andere Führungskräfte in ihrem Unternehmen. Alle übrigen CFOs werden sich Gedanken machen müssen, wie Analytics-Programme ihre Arbeitsweise verändern könnten, um mit gutem Beispiel voranzugehen.;