Deutschland 2030: Kreative Erneuerung

| Analyse

Unsere Gesellschaft hat hohe Ansprüche: Wohlstand auf mindestens dem heutigen Niveau, die Teilhabe aller an Fortschritt und Chancen sowie die Bewältigung des Klimawandels. Deutschlands Modell der sozialen Marktwirtschaft, seit Jahrzehnten ein Garant für Wohlstand, Stabilität und soziale Absicherung, ist eine Stärke. Aber die Faktoren, die unseren Erfolg in der Vergangenheit besonders gefördert haben, verlieren erkennbar an Kraft. Deutschland muss eine zukunftsfähige Antwort finden auf die Umbrüche in Technologie, Demografie und globalem Wirtschaftsgefüge sowie auf neue gesellschaftliche Anforderungen, insbesondere Emissions- und Nachhaltigkeitsziele und das Nebeneinander von Mensch und Maschine. Warum diese umfassende „kreative Erneuerung“ unabdingbar ist, was sie verspricht und was zu ihrer Verwirklichung geschehen sollte, erläutern wir in dieser Publikation.

Die folgenden Kernthesen fassen unsere Analysen und Empfehlungen zusammen.

Deutschlands Wirtschaft. Eine globale Erfolgsgeschichte. Das Modell der sozialen Marktwirtschaft hat Deutschland zu einem Globalisierungsgewinner gemacht: Mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Wachstum von 1,1% in den Jahren 2000 bis 2019 liegt es auf dem Niveau der USA (1,2%). Darüber hinaus ist Deutschland auch in Sachen Nachhaltigkeit in der Führungsgruppe, gemessen an den Sustainable Development Goals (SDG) der Vereinten Nationen. Verglichen mit den USA, ist die Einkommensverteilung hierzulande ausgeglichener (Gini- Koeffizient 29,7 vs. 41,4)1, der CO2-Ausstoß pro Kopf um 45% niedriger und der soziale Fortschritt höher (Rang 11 vs. Rang 28 im Social Progress Index von 163 Ländern).

Epochenwende mit drei markanten Disruptionen. Die Geschwindigkeit exponentieller Entwicklungen von Technologien wie künstlicher Intelligenz (KI) ist mittlerweile ausreichend hoch, um Sprunginnovationen etwa in Biotechnologie und Automatisierung zu ermöglichen. Die kreative Erneuerung der wirtschaftlichen Akteure schafft ein Wachstumsmodell, das auch in der nächsten Epoche leistungsfähig ist und es ermöglicht, unsere gesamthaften Ansprüche an eine nachhaltige Gesellschaft zu erfüllen. Die Zahl der potenziell Erwerbstätigen hat in großen Teilen Europas die historischen Höchstmarken überschritten und wird weiter sinken. Die Anstrengungen zur Begrenzung des Klimawandels auf 1,5 Grad gegenüber dem Niveau vor der Industrialisierung sind eine neue gesellschaftliche Priorität und führen zu einer fundamentalen Neubewertung und Transformation der Wirtschaftsaktivitäten. Zudem entstehen weitere Unsicherheiten für das vom Exporterfolg geprägte deutsche Modell aus den Spannungen in den globalen Handelsbeziehungen. Die große Mehrheit der Deutschen erwartet einen tiefgreifenden Wandel und will gleichzeitig mindestens den hohen Status quo erhalten.

Die Lösung: kreative Erneuerung. Die Disruptionen der Epochenwende erfordern und belohnen disruptive, radikal neue Lösungen. Dabei zahlen sich Sprunginnovationen aus – kontinuierliche inkrementelle Verbesserungen von high-end Produkten (Deutschlands primäres Erfolgsrezept über viele Jahrzehnte) reichen nicht mehr. Nicht die Erhaltung des Status quo, sondern der Aufbruch und die mit ihm verbundenen neuen Chancen ermöglichen auch künftig die Teilhabe aller an Fortschritt und Chancen im Sinne der sozialen Marktwirtschaft. Die kreative Erneuerung der Gesellschaft ermöglicht ein wirtschaftliches Wachstumsmodell, das auch in der nächsten Epoche leistungsfähig ist und es ermöglicht, unsere gesamthaften Ansprüche an eine nachhaltige Gesellschaft zu erfüllen. Für den Übergang zu einem Wirtschaftsmodell nach dem Prinzip der kreativen Erneuerung müssen sechs Handlungsfelder adressiert werden: Zum einen die Transformation in allen Segmenten der Wirtschaft (Handlungsfelder 1-3), zum anderen die Weiterentwicklung kritischer Rahmenbedingungen – das ‚Betriebssystem‘ – für kreative Erneuerung (Handlungsfelder 4-6). So kann die kreative Erneuerung das durchschnittliche und werthaltige BIP-Wachstum bis 2030 auf 2% beschleunigen: Das bedeutet eine Verdoppelung gegenüber den 1,1% Pro-Kopf-Wachstum im Durchschnitt der letzten 20 Jahre. Da die im folgenden beschriebenen Anstrengungen in den sechs Handlungsfeldern sich besonders mittelfristig auswirken, ist zum Ende der Dekade sogar eine höhere Wachstumsdynamik möglich.

Kreative Erneuerung der Industrie verwirklichen – Transformation in allen Segmenten

Handlungsfeld 1: Spitzenunternehmen – Transformation in wachstumsstarke Felder. Die Bedeutung globaler Spitzenunternehmen mit ihrem überdurchschnittlichen Anteil für Forschung und Entwicklung (F&E) und als Anker für ganze Industrie-Cluster ist in den vergangenen Dekaden weiter gestiegen. 87% der Aufwendungen für F&E wurden in Deutschland in 2017 von größeren Unternehmen (> 500 Beschäftigte) getätigt. Aber nur eines von vier Dax- und MDAX- Unternehmen kommt aus einem Sektor mit hohem Wachstumsmomentum. Deutsche Spitzenunternehmen können die Transformation zu mehr Wachstumsmomentum anführen: in den traditionellen Kernsektoren wie Automobil, Maschinenbau und Chemie mit erfolgreichen Erneuerungen der Geschäftsmodelle im Produktangebot und den Herstellungsprozessen, in Sektoren mit hohem Momentum durch mehr Spitzenunternehmen in Geschäftsfeldern wie Informations- und Datengeschäften, Software und Pharma. In einem auf Deutschlands Stärken ausgerichteten dynamischeren Portfolio kann das jährliche BIP-Wachstum in 2030 durch dieses erhöhte ‚Momentum‘ um 0,2 bis 0,3 Prozentpunkte erhöht werden.

Handlungsfeld 2: Mittelstand – vom Produktspezialisten zum Ökosystemspieler. Der deutsche Mittelstand ist Weltmeister in der Herstellung von hochspezialisierten Hardware-Produkten. Über 90% der führenden Mittelständler kommen aus der Hardwareproduktion. Jetzt müssen die bisherigen reinen Hardwareproduzenten zusätzlich Software entwickeln und die neuen Produkte in das Internet der Dinge integrieren, um auch in Zukunft eine wesentliche Rolle im Gesamtsystem zu spielen. 0,4 Prozentpunkte zusätzliches Wachstum in 2030 in Deutschland sind allein durch das Ausrollen von KI und Automatisierung möglich. Im breiten Mittelstand ist Digitalisierung das drängendste Thema: In der Pandemie sind bei den meisten kleineren Unternehmen die Digitalinvestitionen zurückgegangen, während die Top-Unternehmen beschleunigt haben. Die Digitalisierung jetzt wieder aufzunehmen und in den nächsten Jahren zum Erfolg zu führen, ist eine Priorität.

Handlungsfeld 3: Gründungen – „scaled from Europe“. Gründer:innen sind in Deutschland seit einem Jahrzehnt im Aufwind – das Venture Capital Funding hat sich zwischen 2010 und 2020 verzehnfacht, derzeit gibt es 18 „Unicorns“ im Land, das heißt junge innovative Unternehmen mit einer Marktbewertung von mehr als 1 Mrd. USD vor dem Börsengang oder einem Exit. Zudem wären mehr als die Hälfte der von McKinsey in Deutschland befragten 20-40-Jährigen bereit, unternehmerisch tätig zu werden, und jeder 10. würde sogar gern selbst gründen. Als Haupthindernis werden fehlendes Eigenkapital und zu viel bürokratischer Aufwand genannt. Als Basis für erfolgreiche Unternehmensgründungen braucht es noch bessere Verknüpfung von Forscher:innen mit Unternehmertum, das Fördern einer umfassenden Gründerkultur (z.B. Misserfolge als Lernschritt anerkennen) und noch mehr Wissen über den Zugang zu Kaptial.

Kritische Rahmenbedingungen für die kreative Erneuerung schaffen

Handlungsfeld 4: Investitionen in Technologieführerschaft – F&E-Ausgaben verdoppeln. Die Anzahl der aktiven Weltklassepatente hat sich in den letzten 20 Jahren global versiebenfacht. Wer in der Technologieführerschaft abfällt, der fällt früher oder später auch in der Wertschöpfung ab. McKinsey hat über 40 Technologien kategorisiert und nach technischer Reife, Branchenwirkung und Dynamik priorisiert. Das Ergebnis zeigt relative Stärken von Deutschland in Forschung zu Automatisierung, nachhaltiger Energie, Materialien 2.0 und bei der Bio-Revolution, aber auch kritische Schwächen in Feldern wie angewandter Künstlicher Intelligenz (KI) und Next-Generation Computing. So liegt die Zahl der deutschen Weltklassepatente in angewandter KI und Next-Gen Computing deutlich hinter dem Fair Share, der den Anteil an der Gesamtheit der Weltklassepatente unter Berücksichtigung des volkswirtschaftlichen Größenverhältnisses zum Spitzenreiter USA beziffert. Und das ist kritisch berücksichtigt man die Rolle dieser Zukunftstechnologien für das Wachstum. Zudem gelangen in diesen Bereichen wissenschaftliche Durchbrüche zu selten bis zur Kommerzialisierung oder Skalierung; die Übersetzung der Ideen in Produkte und Dienstleistungen bleibt auf der Strecke. Eine Verdopplung der privaten und öffentlichen Investitionen in F&E und ein gezielter, starker Ausbau der (digitalen) Infrastruktur können das BIP-Wachstum in 2030 schätzungsweise um 0,5 Prozentpunkte erhöhen. Über Investitionen in F&E hinaus braucht es auch noch mehr Wissen und Transparenz in die Technologie für die Anwender:Innen. Denn weniger als die Hälfte der von McKinsey befragten 20- bis 40-Jährigen in Deutschland glaubt, dass sich technologischer Fortschritt positiv auf Wirtschaft und Gesellschaft auswirkt. Mehr als die Hälfte zeigt sich nicht offen für Innovationen. Dieser Skepsis muss offen begegnet werden.

Handlungsfeld 5: Transformation in die Zukunft der Arbeit – Wandel von 10,5 Mio. Jobs organisieren. Bis 2030 werden rund 4,0 Mio. Beschäftigte in andere berufliche Tätigkeitsfelder wechseln müssen – knapp 10% der Beschäftigten, zusätzlich müssen über 6,5 Mio. in erheblichem Umfang neue Fähigkeiten aufbauen – allein, um die fortschreitende Digitalisierung umzusetzen. Ein neues, auf lebenslanges Lernen ausgerichtetes (Weiter-)Bildungssystem qualifiziert die Erwerbsbevölkerung für die Arbeitswelten der Zukunft, die sich dynamisch weiterentwickeln werden. Dabei kann Deutschland bewährte Systeme wie duale Ausbildung, Fachhochschulen und Universitäten nutzen. Neu entwickelte Curricula definieren die erforderlichen technologischen und sozialen Kompetenzen der Beschäftigten von morgen.

Handlungsfeld 6: Staat als ergebnisorientierter Partner. Wie in Handlungsfeld 4 beschrieben, spielt der Staat mit seiner Fähigkeit zur Übernahme langfristiger und hoher Risiken eine wichtige Rolle für die Investitionen in kritische Basistechnologien. Darüber hinaus hat der Staat eine entscheidende Rolle, den Rahmen für eine beschleunigte Dynamik der Wirtschaft zu setzen. Zwei Prioritäten stehen im Vordergrund: (i) Planungssicherheit für die Energiewende schaffen: Wir sind in den 90ern mit Vorsprung gestartet, doch die Wende stockt, auch weil private Investoren keine Klarheit über die langfristige Regulierung haben. (ii) Ergebnisorientierte Regulierung und Verwaltung: Die Digitalisierungs-Großprogramme kommen voran. Zusätzlich braucht die Verwaltung einen Kulturwandel von prozess- zu ergebnisorientierter Führung. Auch in der Regulierung kann das Prinzip der Ergebnisorientierung die Beschleunigung von Aktivitäten unterstützen.

Kreative Erneuerung jetzt starten. Die COVID-19-Pandemie hat gezeigt, zu welchen Veränderungen Unternehmen, Staat und Gesellschaft in kürzester Zeit in der Lage sind – etwa in einer 20- bis 25-fach höheren Digitalisierungsgeschwindigkeit in den Unternehmen oder in der Entwicklung und Zulassung neuer Impfstoffe innerhalb von Monaten. Diese Dynamik muss erhalten bleiben, damit eine Herkulesaufgabe wie die Begrenzung des anthropogenen Klimawandels bei gleichzeitiger Erhaltung des Wohlstands erfolgreich gelöst werden kann. Die Pandemie hat auch gezeigt, wie große Veränderungen das Risiko von Spaltungen in „Gewinner“ und „Verlierer“ erhöhen (in 6 von 7 Indikatoren der Produktivitätssteigerung entwickeln sich in der Pandemie weniger Unternehmen weiter als zuvor; z.B. steigerten vor der Pandemie 73% der Unternehmen in Europa ihre F&E- Investitionen, aktuell nur noch 41%)2. Das erfolgreiche Anpacken der Herausforderungen in den sechs Handlungsfeldern schafft die Voraussetzungen für ein zukunftsfähiges Modell, in dem die vorhandenen Optionen genutzt werden. Stillstand dagegen liefe nicht nur auf den Verzicht auf diese neue Chancen hinaus, sondern gefährdet vielmehr mittelfristig unseren Wohlstand.

Weiterführende Materialien: 


Autor:innen:

  • Graciana Petersen, Partnerin im Hamburger Büro von McKinsey & Company
  • Fabian Billing, Managing Director McKinsey & Company Deutschland und Österreich
  • Eckart Windhagen, Seniorpartner im Frankfurter Büro von McKinsey & Company