Das Gespräch finden Sie hier als Podcast, mit einem Klick auf „Play“ hören Sie den Austausch unserer drei Expert:innen.
Eine schriftliche Version des Expertengesprächs folgt hier:
Sascha Lehmann: Hallo und herzlich willkommen liebe Zuhörer:innen. Ich bin Sascha Lehmann, Leiter der Europäischen Marketing Practice bei McKinsey, und ich habe zwei Freunde und Weggefährten heute hier bei mir – Johannes Lorenz von McKinsey und Jennifer Rosenberg von JESTER. Heute werden wir uns über Schlagerfans, Soldat:innen und digitales Marketing unterhalten. Ich freue mich sehr auf die Diskussion und würde ich bitten, euch kurz vorzustellen.
Jennifer Rosenberg: Herzlichen Dank für die Einladung und vor allem ein herzliches Hallo an unsere Zuhörer:innen. Ich bin Jennifer Rosenberg, seit mehr als zehn Jahren Brand Strategin und Marketingexpertin, seit 2019 Teil der Creative Studios von McKinsey und seit 2020 CEO von JESTER. Dort bin ich verantwortlich für brand-led Transformation und disruptives Marketing und genau darüber werden wir heute sprechen.
Johannes-Tobias Lorenz: Grüß Gott, ich bin Johannes Lorenz, Senior Partner bei McKinsey und leite weltweit den Bereich Digital Insurance bei McKinsey. Ich freue mich sehr mit zwei ausgewiesenen Expert:innen heute zu diskutieren, wie auch die Versicherungswirtschaft von „One size fits all“ zu „Segment of one“ in der Kundenansprache kommen kann.
Sascha Lehmann: Danke, Johannes, Danke, Jenny. Johannes, könntest du auf Basis deiner langjährigen Erfahrung im Versicherungssektor beschreiben, was denn die zentralen Herausforderungen in der Ansprache von Neukund:innen in dem Sektor sind?
Johannes-Tobias Lorenz: Neukundenansprache in der Versicherung ist natürlich, wie in vielen anderen Industrien, die Voraussetzung für Wachstum. Herausforderungen für Versicherer dabei ist, dass die Erwartungen der Kunden, was die Neukundenansprache und die Interaktion angeht, sicherlich nicht von anderen Versicherern geprägt werden, sondern von führenden Onlineanbietern für E-Commerce, im Streaming oder beim digital bestellten Taxi. Zweite Herausforderung ist, dass wir ja alle relativ selten Versicherungsverträge kaufen, das heißt, die Interaktionshäufigkeit der Versicherer mit ihren Kunden ist deutlich geringer.
Umso wichtiger ist es, gezielt auf die Kund:innen zuzugehen. Vertriebskosten machen heute fast zwei Drittel der Kosten im Versicherungssektor aus. Um attraktive Preise anbieten zu können, muss man da ökonomisch sinnvolle Angänge haben, um Leads generieren zu können. Und diese Leads werden nicht rein online sein, beziehungsweise in reine Online-Verkaufsstrecken führen, da der physische Vertrieb immer noch 80, 90 Prozent, je nach Sparte des Verkaufs, ausmacht. Und das wird in den nächsten Jahren auch sicherlich weiter so bleiben, sodass man ein hybrides Modell, online und offline, miteinander kombinieren muss.
Sascha Lehmann: Jenny, du als kreative Strategin – siehst du das genau so?
Jennifer Rosenberg: Ja, ich kann das absolut unterstreichen, was Johannes gerade erläutert hat. Ich glauben es ist so, dass ein exzellentes Marketingteam, das alle benötigten Fähigkeiten mitbringt, meiner Meinung nach trotzdem vor der Herausforderung steht, dass das nicht genug ist, weil es einfach immer mehr darum geht, Werbung und gute Kampagnen nicht mehr nur zu machen um zu werben sondern vor allem um sehr spitze und gezielte Zielgruppen anzusprechen. Das heißt: Worum geht’s in Zukunft? Es geht darum, diesem preisgetriebenen Kampf im Massenmarkt zu entkommen und eben eine sehr spitze Ansprache für Onlinecommunities zu kreieren.
Was sind Onlinecommunities? Das sind im Endeffekt Menschen, die sich gemeinsame Interessen, Hobbys, Herkunft oder auch Wohnort teilen. Das heißt Menschen, die miteinander im digitalen Raum kommunizieren und sozusagen ein sogenanntes Cluster bilden. Wie wir das nutzen können, ist im Endeffekt basierend auf Kundendaten, die wir im Onlinebereich identifizieren, um ein sehr tiefes Verständnis für Kunden zu erlangen, um dann neue Produktfeatures und Ideen mit entsprechenden Kampagnen und Marketing für die Neukundenakquise zu nutzen und so auf ein neues, destruktives Level zu heben.
Johannes-Tobias Lorenz: Da du gerade Daten ansprichst – damit kann natürlich der ganze Marketingbereich auch einer der „Pilot Cases“ für eher datengetriebene Geschäftsmodelle der Versicherer sein, denn Daten in der Industrie insgesamt, das ist ja noch ein Thema, das es deutlich schneller und weiter zu entwickeln gilt.
Sascha Lehmann: Jetzt haben wir viel über Daten gesprochen und wenn ich mich so ein bisschen zurück erinnere an die Zeit, als ich angefangen habe in Versicherungsunternehmen Marketing zu machen, da gab es immer eine Segmentierung, die hat etwas mit den Lebenszyklen der Lebensphasen der Kunden im Alltag zu tun. Das war eine Zielgruppenbeschreibung, die Basis für alle Marketingaktivitäten war. Wir haben auch viel über Social Media und Onlinedaten geredet – was ist denn jetzt wirklich konkret anders und wie sehen diese Zielgruppen aus, dieses „Segment of One“, von dem Johannes auch schon gesprochen hat? Kannst du uns da ein paar konkrete Beispiele bringen, wie das zum Leben erwecken?
Jennifer Rosenberg: Gerne, Sascha. Lass uns ein paar konkrete Beispiele bringen: Ich glaube, dass der Prozess, so wie du ihn gerade beschrieben hast – nennen wir ihn mal den „alten Prozess“ – einen massiven Schwachpunkt hat. Und zwar betrachtet er nicht die Nutzer, wir wir heute aber vorfinden. Wir alle kennen es, wir hängen den halben Tag an unseren Mobiltelefonen und was dort passiert, ist: Unsere Aufmerksamkteitsspanne sinkt massiv auf drei Sekunden. Der durchschnittliche Nutzer scrollt mehr als 60 Meter Content pro Tag und ist mit mehr Produktwerbungen pro Tag konfrontiert.
Und genau das ist, womit auch Versicherer konfrontiert sind. Das heißt die Frage, die wir uns stellen müssen, ist: Wie können wir eine sehr zielgruppengerechte Ansprache so für uns nutzen, dass nicht wirklich auf Menschen treffen, die sich sehr für unsere Produkte interessieren?
Hier tritt diese „Revolution“ jetzt ein, denn es gibt sehr, sehr viele Menschen im digitalen Raum, die sich für Versicherungsprodukte interessieren und eine sehr hohe Affinität dafür haben. Das heißt überdurchschnittlich viel Aufmerksamkeit und Interesse. Das ist, wo unser neues Modell im Endeffekt ansetzt: Es ist egal, ob es Schlagerfans, Soldat:innen oder Communities mit einem bestimmten ethischen Hintergrund sind, oder auch Nachhaltigkeitsenthusiasten oder Veganer – es gibt bestimmte Interessensgruppen die eben ein bestimmtes Bedürfnis und Interesse an Versicherungen haben. Und dieses Bedürfnis und Interesse sollten wir auf jeden Fall nutzen.
Sascha Lehmann: Wenn wir das mit unseren Klienten diskutieren, verstehen sie das konzeptionell. Könntest du unseren Zuhörer:innen dabei helfen sich in in diese Bubbles und Onlinecommunities einmal hineinzudenken? Vielleicht kannst du ein Beispiel herausgreifen?
Jennifer Rosenberg: Ja gerne. Ich nehme eines der Beispiele, das auch bei uns zu vielen Überraschungen geführt hat: Und zwar das Beispiel für KfZ-Versicherungen. Wir haben uns angesehen, am deutschen Markt, im digitalen Raum, wo gibt es denn da Menschen und User, die eine hohe Affinität für KfZ-Versicherungen aufweisen. Das sind Menschen, die durch ihre Suchergebnisse, ihre Likes, durch ihre Seitenbesuche mittles Artificial Intelligence (AI) gefunden werden. Die haben wir eben versucht zu finden – und wir haben sie gefunden – und wir fassen diese in Peer Groups oder Online Communities zusammen. Das heißt wir bilden Cluster von diesen Menschen und was wir im Zuge der Kfz-Versicherungen herausgefunden haben, ist, dass es eine unfassbar hohe Affinität für KfZ-Versicherungen unter Bundeswehrsoldat:innen gibt. Was wir dann auch gesehen haben ist, für welche Themen interessieren sie sich noch, auf welchen Kanälen sind sie zuhause, welche Influencer sind relevant, welche Stars und Celebrities. Was wir machen können, ist, dass wir mit sogenanntem Hyber Local Marketing zum Beispiel in diesen Regionen beispielsweise Soldat:innen ansprechen können, um über KfZ-Versicherungen zu sprechen.
Johannes-Tobias Lorenz: Kannst du da weitere Beispiele nennen?
Jennifer Rosenberg: Ja, eine super spannende Zielgruppe, an die ich mich noch erinnern kann, waren Schlagerfans.
Johannes-Tobias Lorenz: Udo Jürgens mag ich auch.
Jennifer Rosenberg [lacht]: In unserem Fall war es nicht Udo Jürgens, sondern Beatrice Egli. Für alle Schlagerfans unter unseren Zuhörer:innen. Da haben wir auch wieder zwei Themen verknüpft, nämlich hohes Interesse für Lebensversicherungen und eine unfassbar hohe Affinität für Schlager. Und dort war die Idee für eine Kampagne zum Beispiel: Wie können wir jetzt eine „Lebensversicherung der guten Laune“ schaffen? Und dann im Endeffekt war die Idee so, dass bei regelmäßiger Einzahlung in die Lebensversicherung werden Kund:innen auch beispielsweise mit Konzertkarten für Schlager belohnt oder es gibt eine Spendenintegration, wo Spenden für wohltätige Zwecke gesammelt werden. Wir haben auch gesehen, dass hier eine unfassbar hohe Aktivität von Schlagerfans da ist.
Das heißt, man sieht hier, was ist das Interesse, wo liegt das Interesse der Zielgruppe und wo können wir unser Produkt perfekt platzieren und dann auch entsprechend mit Marketingaktivitäten verknüpfen.
Sascha Lehmann: Marketing wird dynamischer durch solche granularen Ansprachekonzepte. Es sind nicht mehr zehn oder 20 Kampagnen, die im Jahr gefahren werden, sondern vielleicht hundert im Monat oder in der Woche. Das hat halt gewisse Anforderungen, wir hatten es ja eingangs schon kurz thematisiert, an Marketing-Organisationen, an die Teams, die daran arbeiten. Wie schätzt Du das ein, Johannes, ist das ist das etwas, was Versicherer vor große Herausforderungen stellt oder siehst du die Chancen da größer?
Johannes-Tobias Lorenz: Ich sehe da ganz klar die Chancen. Es mag zwar vielleicht eine Herausforderung sein, die Marktfähigkeiten langfristig aufzubauen, den Prozess aufzusetzen und ins Geschäft zu integrieren – wie du es auch gesagt hast, damit das nicht irgendeine eine Stand-Alone-Aktivität ist, die über den Pilot- und Use-Case-Status nicht hinauskommt. Aber wenn man das schafft, dann ist das ganz klar eine Chance für die Versicherer.
Sascha Lehmann: Um hier auch noch ein paar Zahlen zu ergänzen, wir sehen halt das Gute an digitalen Kampagnen ist ja, dass wir uns ja quasi in Echtzeit anschauen können, wie Konversionsraten oder auch Klickraten sich entwickeln. Das ist wirklich keine Seltenheit, dass wir bei solchen Kampagnen, wie Jenny sie gerade beschrieben hat, tatsächlich 300 bis 500 Prozent bessere Performance sehen als bei klassischen Digital-Marketing-Kampagnen, sodass relativ schnell klar wird, dass sich der Aufwand hier auch wirklich lohnt. Johannes, kannst du vielleicht drei Sätze dazu sagen, was die Herausforderungen auf der operativen Seite sind, wenn wir mit Versicherungsunternehmen zu tun haben?
Johannes-Tobias Lorenz: Das kann man natürlich so nicht pauschalisieren, zwischen weit entwickelten Versicherungsunternehmen, die schon sehr viele Onlinemarketing-Fähigkeit aufgebaut haben, und dem vielleicht weniger digitalafinen Konzern. Aber grundsätzlich ist die Herausforderung bei den traditionelleren Versicherungsunternehmen, dass die Übertragung von Insights in Action relativ lange dauert, dass es da sehr viele Abstimmungsschleifen bzw. Freigabeschleifen gibt und Überlegungen, ob das auch wirklich compliant ist et cetera. Von daher ist das Konzept des „Kampagnen War Rooms“, was wir ja schon gemeinsam in zwei, drei Fällen entwickelt haben, sehr interessant: Ein crossfunktionales Team sitzt zusammen und guckt, wo sind interessante Segmente, wie kann die Kampagne aussehen, und wie kann man ann auch nachvollziehen, wie erfolgreich die Kapagne ist und das Kampagnenkonzept kontinuierlich weiterentwickeln, um den Salesfunnel zu monitoren. Diese integrative Perspektive von Customer Insights zu Campaign zu Action, und dann auch zum Verkaufserfolg, dass man diesen Kampagnen im War Room zusammenführt – ich glaube, das ist das Entscheidende und da sollte die Reise hingehen. Wie gesagt, es gibt einige Versicherer, die das schon sehr erfolgreich gemacht haben es gibt andere, die diesen Schritt noch vor sich haben.
Sascha Lehmann: Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt, danke dir. Was ich nochmal erwähnen möchte: Das klingt immer so mysteriös was ein Kampagnen War Room ist, ich möchte nur davor warnen, dass man tatsächlich als erstes Eingriffe in das Operating Modell und in die Zusammenarbeitsform jetzt voranstellt, bevor man anfängt solche Kampagnen zu implementieren. Was wir ja auch häufig sehen, ist, dass erste Versuche solche Insights zu nutzen im Piloten tatsächlich dazu führen, dass man insgesamt einen Prozess anstößt, wie sich Unternehmen verändern können und eben diese neuen Arbeitsweisen, diese agilen Arbeitsweisen und auch eben dieses siloüberspannende Arbeiten einführen – ohne dabei tatsächlich die ganze Organisation zu ändern, in einem Schritt. Das ist eines der Learnings, das ich den Zuhörer:innen mitgeben möchte, dass es nicht darum geht hier eine komplett neue Einheit aufzubauen, sondern dass ist eine Transformation ist der bestehenden Marketing- und Sales-Einheiten, unter der Nutzung neuer Daten, unter der Nutzung neuer Techniken, die tatsächlich auch sehr schnell zu ersten Impactzahlen führen, die dann letzten Endes auch dazu genutzt werden können, um eine Begeisterung im Unternehmen für diese Themen zu erzielen.
Johannes-Tobias Lorenz: Die Schlager haben mich jetzt wirklich begeistert, Jenny. Jetzt sag nochmal gang konkret, wie würden wir denn jetzt loslegen, als Head of Marketing oder Vertriebsverantwortlicher bei einer Versicherung, um so eine Kampagne zu operationalisieren?
Jennifer Rosenberg: Das Wichtigste ist, dass wir im ersten Moment das ganze Produktportfolio verstehen, das heißt genau verstehen, wo wollen wir denn entsprechende Versicherungsprodukte über welche Märkte an den Mann bringen. Das heißt wir gehen eigentlich konkret vom Marketing Team aus, um zu verstehen, um welche Versicherungsprodukte es geht, und gehen dann in die Datenanalyse um zu verstehen, wo entsprechende Onlinecommunicties und Peer Groups sind, die sich für unsere Produkte interessieren. Das ist das, wie wir ins langsam herantasten und eine große Landkarte entwickeln, um zu verstehen, wo sind die höchsten Affinitäten zu unseren Produkten. Dort gehen wir dann in die Entwicklung von neuen Idee, von disrutiven Kampagnen, um dann auch zu entscheiden, welchen Mediamix wir nutzen, um die entsprechenden Kampagnen auszuspielen. Denn auch im digitalen Raum sind auch unfassbar viele Kanäle da, die wir nutzen sollen und können, aber wir verstehen ja durch das Verständnis über die Communities auch, wo unsere Werbung am besten platziert ist, damit wir unsere Zielgruppen auch wirklich erreichen.
Johannes-Tobias Lorenz: Das war – fand ich – eine super spannende Unterhaltung, wie wir auch in der Versicherung von „One size fits all“ zu „Segment of one“ kommen. Ich persönlich wurde von dir, Jenny, gut abgeholt, mit dem Schlagergroove hast du mich angesprochen. Und ich hoffe unsere Zuhörer:innen werden genauso viel Spaß haben wie wir drei hier.
Sascha Lehmann: Vielen Dank.
Jennifer Rosenberg: Vielen Dank für die Einladung.